Working Papers in Neurolinguistics and Neuroscience 

Neuro 2: 

H. Kindt, U. Rabenschlag, M. Schecker: Kommunikative Parameter psychopathologischer Prozesse: Zum Gesprächsverhalten psychisch kranker Kinder (1998)

  

Inhalt

(1) Probleme der psychopathologischen Diagnostik

    (1.1.) Interaktive Datenkonstitution
    (1.2.) Entwicklungspsychologische Aspekte
    (1.3.) Folgerungen
     

(2) Freiburger Ansätze

    (2.1.) Überblick
    (2.2.) Semistrukturierte Interviews
    (2.3.) Analysen des Bindungsverhaltens
    (2.4.) Psycholinguistisch-konversationsanalytische Auswertungen
     

(3) Ausblicke: Kommunikationsprofile (Schecker M)

    (3.1.) Theoretische Grundlagen
    (3.2.) Auswertungsschritt 1
    (3.3.) Auswertungsschritt 2
    (3.4.) Ausblicke

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(1) Probleme der psychopathologischen Diagnostik

(1.1.) Interaktive Datenkonstitution

Eine auf der Beobachtung von Symptomen aufbauende psychopathologische Diagnostik hat es mit mindestens zwei fundamentalen Problemen zu tun, die untereinander eng zusammenhängen; einmal geht es um methodologische Aspekte, zum anderen um gegenstandsbezogene Aspekte.

Psychopathologische Symptome sind semiotisch gesehen Zeichen, die 'für etwas stehen'. Sie stehen nach allgemeinem Konsens für gewisse kognitive und affektive Defizite und / oder für (mehr oder eben weniger geglückte ) langfristige Anpassungen und Reaktionsmuster. 'Anpassung an ...' und 'Reaktion auf ...' aber sind immer auch interaktiv vermittelte und kommunikativ orientierte Leistungen.

Was verbirgt sich methodisch gesehen hinter der Rede von der Beobachtung und Abgrenzung von Symptomen? Beobachtet wird immer in Kommunikation und Interaktion mit dem Patienten. Das heisst aber nichts anderes, als daß auch die am Patienten beobachteten Symptome interaktiv konstituiert sind: Sie zeigen sich in Kontakt mit ... und in Reaktion auf den Interaktionspartner; sie sind Teil eines kommunikativen Austauschs und an diesen gebunden. Wir ziehen daraus die Folgerung, daß die 'Beobachtung von Symptomen' und dann auch der Rückschluß auf langfristige Anpassungsleistungen und Reaktionsmuster in eine Analyse entsprechender Interaktionen einzubetten sind.

(1.2.) Entwicklungspsychologische Aspekte

Bereits bei erwachsenen Patienten ist es fragwürdig, z.B. für eine Depression (unabhängig von einer jeweiligen Interaktionssituation) bestimmte Symptome festzuschreiben. Dieser Sachverhalt wird zusätzlich dadurch erschwert, daß die Ausgestaltung psychopathologischer Symptome nach weitgehender Übereinstimmung auch entwicklungsbedingt ist und sich dementsprechend bei Kindern fortlaufend verändern muß ( vgl. hierzu für den deutschen Sprachraum Eggers, Chr., Language and communicative behavior in childhood psychosis, in: Blanken, G. u.a. (Hgs.), Linguistic disorders and pathologies (HSK Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Band 8), Berlin u.a. 1993: 794-804 ).

(1.3.) Folgerungen

Aus der obige Skizze lassen sich die folgenden drei Fragestellungen ableiten:

1.3.1. Was am Gesprächs und Kommunikationsverhalten eines psychisch gestörten Kindes 'spiegelt' nur auf die jeweilige Interaktion und die aktuellen Kommunikationspartner bezogene Verhaltensweisen und Handlungsstrategien? Was verrät - dazu in Opposition - längerfristige, über den einzelnen kommunikativen Austausch hinausgehende, psychopathologisch abgrenzbare und benennbare Symptome?

1.3.2. Auf welche Weise werden längerfristige psychopathologische Defizite und über einen jeweiligen kommunikativen Austausch hinausreichende problematische Reaktionsmuster mit einem aktuellen Interaktionsverhalten vermittelt? Wie wirken sie sich hier aus?

1.3.3. Und in Vertiefung der beiden ersten Fragen: Inwieweit sind das (mehr oder weniger auffallende) Kommunikationsverhalten psychisch gestörter Kinder und gegebenenfalls auch die dieses Verhalten konstituierenden Reaktionsmuster und Defizite als altersspezifisch anzusehen? Welche altersspezifischen Unterschiede müßen wir hier in Rechnung stellen?

(2) Freiburger Ansätze

(2.1.) Überblick

In Ergänzung der 'Beobachtung von Symptomen' verwenden wir in Freiburg auf Kinder und Jugendliche angepaßte diagnostische Interviews wie z.B. das 'KIDDIESADS '. Parallel dazu wird das 'Bindungsverhalten' von Kindern und Jugendlichen in standardisierten Interaktionssituationen untersucht. Schließlich ist das Gesprächsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Therapiesituationen Gegenstand der Analyse; hier arbeiten wir mit einer eigens dazu entwickelten quantitativen Parametrisierung psychopathologisch relevanter kommunikativer Auffälligkeiten.

(2.2.) Semistrukturierte Interviews

Strukturierte oder semistrukturierte diagnostische Interviews wie das 'KIDDIESADS', bei denen eine direkte Befragung von Kindern und Eltern durchgeführt wird, stellen heute - in Ersatz einer phänomenologischen Symptomatologie - die Hauptdatenquelle für die Diagnose und die Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen bei Kindern dar. - Aufbau und Ablauf solcher Interviews folgen den von Rutter und Graham entwickelten Kriterien für diagnostische Interviews (Rutter M, Graham P. The reliability and validity of the psychiatric assessment of the child: Interview with the child. In: British Journal of Psychiatry 11:1968:563-579): Der Inhalt des Interviews wird auf bestimmte Zielphänomene fokussiert; es werden vorspezifizierte Formate für die Bewertung und Erfassung der Antworten angeboten; das Kind wird direkt interviewt; parallel dazu werden Interviews mit den Eltern durchgeführt.

Die direkte Befragung der betroffenen Kinder und Jugendlichen erlaubt es, die eher 'subjektiven', 'inneren' Aspekte z.B. einer Depression zu erfassen, die sich einer Beobachtung und phänomenologisch orientierten Erfassung durch andere Personen entziehen. Das ist zweifelsohne schwierig, denn die Fähigkeit, sich selber wahrzunehmen, - und dann: über sich selber zu berichten und sein sich-selber-Erleben darzustellen, ist alters- bzw. entwicklungsabhängig, und die Ergebnisse sind schlecht vergleichbar.

(2.3.) Analysen des Bindungsverhaltens

Was ist mit 'Bindung' und 'Bindungsverhalten' und dann mit 'Bindungstheorie' gemeint? Die Vorstellungen der Bindungstheorie gehen auf evolutionsbiologische und psychoanalytische Konzepte zurück. Die Kernaussage der Bindungstheorie lautet: Im ersten Lebensjahr kommt zwischen einem Kind und seinen wichtigsten Bezugspersonen eine besondere, biologisch fundierte Art der Beziehung zustande, die 'Bindung'. Sie wird als Verhaltenssystem verstanden, das sich evolutionär entwickelt hat, und das zunächst einmal gewährleisten soll, daß das noch unreife und hilflose Kind Schutz, Fürsorge und Betreuung erhält.

Die entwicklungspsychologisch ausgerichtete Bindungsforschung befaßt sich mit der Psychodynamik des Bindungsverhaltens und mit den zugrundeliegenden 'mentalen Bindungsmodellen' vom Säuglingsalter bis hin zu den entsprechenden 'inneren Arbeitsmodellen' im Erwachsenenalter. Eine Analyse des Bindungsverhaltens psychisch gestörter Kinder und der entsprechenden Bindungsmodelle erlaubt es, eher 'lokale', zeitlich begrenzte Auffälligkeiten und generelle Veränderungen aufeinander zu beziehen. Darüberhinaus vermag die Analyse von 'Bindungsmodellen', die einzelnen Anpassungsweisen und Reaktionsmuster insbesondere in ihrer 'inneren', 'subjektiven' Qualität deutlich zu machen, ohne dabei auf die Selbstdarstellung der betreffenden Kinder und Jugendlichen zurückgreifen zu müßen.

Methodisch stützen wir uns auf die experimentell bereits überprüfte 'strange situation' und erproben überdies ein auf dem 'AAI' aufbauendes eigenes Erhebungsverfahren.

Bisher völlig unklar sind die Standards der Interpretation der Ergebnisse: Wenn die Analysen z.B. ein 'unsicher ambivalent gebundenes Kind' ergeben, dann ist damit noch in keiner Weise eine Querverbindung zur Psychopathologie hergestellt, die aber doch zur Einweisung in die Klinik geführt hatte. Entsprechend läßt sich auch keine Folgerung aus der Erkenntnis ziehen, daß - ein zweites Beispiel - ein analysiertes Kind zum Typus 'sicher gebundener Kinder' gehört. Die Zielvorstellung kann deshalb auch nicht diagnostischer Art sein; vielmehr steht zu erwarten, daß Bindungsstudien der skizzierten Art längerfristig präzisere Einsichten in die Qualität und auch in den Entstehungszusammenhang einer Psychopathologie ermöglichen werden.

(2.4.) Psycholinguistisch-konversationsanalytische Auswertungen

Die psycholinguistische und 'konversationsanalytische' Untersuchung des Gesprächsverhaltens psychisch kranker Kinder und eine dazu am Neurolinguistischen Labor der Universität Freiburg entwickelte quantitative Parametrisierung psychopathologisch relevanter Auffälligkeiten thematisieren ebenfalls den Unterschied von singulären 'lokalen' Auffälligkeiten und generellen 'globalen' Veränderungen. Was generelle 'globale' Veränderungen angeht, so legt die parametrisierte quantitative Erfassung kommunikativer Auffälligkeiten nahe, typische Kommunikationsprofile zu formulieren und differentialtypologische Abgrenzungen und Unterschiede der Sprachverarbeitung und des Kommunikationsverhaltens herauszuarbeiten. Das sei an einem kleinen Beispiel näher erläutert, - es handelt sich um den Beginn eines Therapiegesprächs mit einem 11jährigen Jungen:

 Auf den ersten Blick scheint das Kind sich dem Kommunikationsangebot des Therapeuten verweigern zu wollen. So stellt der Gesprächsbeitrag [ 1 ] des Therapeuten ja nicht nur eine Frage dar, es wird hier nicht nur gefragt, wo das Kind sitzen will, sondern der Therapeut eröffnet damit einen Gesprächsrahmen und etabliert Rollen, so die Rolle des Kindes als eines Gesprächspartners, auf dessen Mitwirken und vor allem Wohlbefinden es dem Therapeuten ankommt (der Gesprächsbeitrag [ 1 ] unterstellt beim Kind implizit eine affektive Präferenz, an einer bestimmten Stelle zu sitzen).

Wenn nun das Kind mit dem Gesprächsbeitrag [2] die in [1 ] formulierte Unterstellung zurueckweist, so weist es damit auch die angebotene Beteiligung oder eine vorgeschlagene Rolle zurueck.

Oder man vergleiche die in [7] vollzogene, sehr vorsichtige (bzw. minimal direktive) Aufforderung des Therapeuten an das Kind, etwas zum Gespräch beizutragen. ( Der Therapeut äußert ein typisches Hörer-Signal und 'tut damit so', als ob er intensiv zuhören würde, in geeigneten Kontexten eine indirekte Aufforderung an den Kommunikationspartner, etwas zu sagen. ) Ein Ergebnis hat die Initiative [7] des Therapeuten nicht.

Oder man vergleiche die schon sehr viel direktivere (direkte) Frage [9], auf die das Kind mit einer Verneinung, wichtiger noch: mit minimalem kommunikativen Aufwand reagiert.

 Umfangreiche Analysen zum Gesprächsverhalten des obigen Kindes ergaben nun allerdings ganz generell eine gegenüber anderen Kindern signifikant herabgesetzte 'Responsivität`; das meint im Sinne einer Antwortbereitschaft das Ausmaß, in dem ein Kommunikant in seinen Reaktionen auf die Initiativen eines Kommunikationspartners eingeht. Selbst für Gesprächspassagen mit umfangreicher Beteiligung des Kindes änderte sich dieses Bild nicht; was eine auf die Intentionen des Kindes abzielende Aussage, das Kind wolle sich dem Kommunikationsangebot des Therapeuten verweigern, fragwürdig macht.

Vielmehr spiegelt das Verhalten des Kindes u.E. eine generellere Unfähigkeit, in einem altersspezifischen Ausmaß den Kontextzusammenhang einzubeziehen, und das bedeutet mit Blick auf das obige Beispiel ein Unvermögen, altersspezifisch hinreichend den initiativen Therapeuten und dessen Beweggründe zu rekonstruieren bzw. den Gesprächspartner im Rahmen der eigenen Reaktion zu antizipieren.

Wir können hier nicht darauf eingehen, welche Ursachen für die skizzierten Störungen der Kontext-Verarbeitung in Erwägung zu ziehen sind.

Würden wir weitere Parameter des Gesprächsverhaltens hinzunehmen so z.B. die deutlich erhöhte 'Direktivität' der Initiativen und der vergleichsweise geringe verbale Aufwand für das 'Gesprächsmanagement', so würde sich für das obige Kind ein Kommunikationsprofil ergeben, wie es typisch ist z.B. für Kinder mit 'autistischen Tendenzen' und für psychiatrisch als psychosenahe oder praepsychotisch eingestufte Störungsbilder.

(3) Ausblicke: Kommunikationsprofile (Schecker M)

Derzeit sind die konversationsanalytisch-psycholinguistischen Auswertungen am weitesten vorangeschritten. Wir haben inzwischen sechs (6) kranke Kinder im Gespräch mit ihrem Therapeuten - und pro Gesprächspartner dreihundert (300) Gesprächszüge - analysiert. Hinzu kommen zwei (2) gesunde Kinder gleicher Alterstufe im Gespräch mit einem in der Gesprächstherapie erfahrenen, stark non-direktiv agierenden Erwachsenen (ebenfalls pro Gesprächspartner dreihundert (300) Gesprächszüge). - Insgesamt ergibt das einen Korpus von 4.800 analysierten Gesprächszügen.

 Wir konzentrieren uns im folgenden auf das Gesprächsverhalten depressiver Kinder (zwischen 8 und 9,6 Jahren).

(3.1.) Theoretische Grundlagen

Im Rahmen der konversationsanalytischen Auswertungen wird ein Gesprächszug auf insgesamt zehn Skalen bzw. Parametern bewertet (zu den Details vgl. die Veröffentlichungen der Projektgruppe, insbesondere Kruck C, Heine E, Lürmann N, Rabenschlag U & Schecker M: Kommunikative Parameter psychopathologischer Prozesse. In: Dialoganalyse V. Hgs. Laroche-Bouvy D, Pietri E. Tübingen: Niemeyer: 1995, und Schecker M et al. (Hgs.): Sprachverarbeitung und Gesprächsverhalten psychisch kranker Kinder, Gunter-Narr-Verlag: "cognitio 9": Tübingen: demnächst).

Untersucht man mit Blick auf depressive Kinder, auf welchen Skalen sich - auch differentialdiagnostisch - signifikante Unterschiede ergeben, so sind das einmal die Skala der "Reaktivität" (Reagiert ein Gesprächsteilnehmer auf einen vorangegangenen Gesprächszug? Ein Gesprächszug ist sehr häufig sowohl initiativ wie reaktiv!) und zum anderen- tendenziell - die Skalen der "Direktivität" (Wie energisch versucht ein Gesprächsteilnehmer im Rahmen einer Initiative sein Anliegen durchzusetzen?) und der "Responsivität" (Wie ausführlich geht ein Gesprächsteilnehmer in seiner Reaktion auf den vorangegangenen Gesprächszug des Partners ein?).

 Reagiert ein Gesprächsteilnehmer sehr kooperativ auf fast jede Initiative seines Partners, so wird sein Gesprächsverhalten von uns als sehr "komplementär" eingestuft; "Komplementarität" ist eine abgeleitete Skala, auf der wir nur diejenigen Reaktionen bzw. reaktiven Gesprächszüge erfassen, in denen ein Gesprächsteilnehmer auf eine Initiative des Gesprächspartners reagiert.

 Die Skalen der Direktivität und der Responsivität sind von uns als Intervallskalen ausgearbeitet. Wichtiger aber ist die Verteilung der einzelnen Direktivitäts- und Responsivitätsgrade:

 Bei den Direktivitätsgraden einer Initiative unterscheiden wir Initiativen, die direkte Sprechhandlungen darstellen, von solchen, die indirekte Sprechhandlungen sind und zum Verständnis Kontext brauchen; - nur unter Einschluß von Kontext ist bei indirekten Sprechakten über 'das Gesagte' hinaus ableitbar, was der Sprecher 'gemeint' hat.

 Bei den Responsivitätsgraden unterscheiden wir ein (gegebenenfalls sehr ausführliches) rein formales Eingehen auf den Partner von einem (gegebenenfalls verbal stark reduzierten) inhaltllichen Eingehen auf den Partner. Setzen wir die Frage des Therapeuten "Warst'e denn schon mal da oben auf der Station?" voraus, so würde die Antwort "Ja!" des Kindes eine zwar verbal sehr reduzierte, aber eben inhaltlich gefüllte Reaktion darstellen. Wenn um gekehrt das Kind fragt "Können Kastanien brennen?" und der Therapeut darauf mit der Äußerung reagiert "Das würdest du jetzt natürlich gerne wissen, aber guck' doch mal, wie spät es schon ist!", dann reagiert er zwar verbal recht ausführlich, geht aber inhaltlich auf das Kind nicht ein.

(3.2.) Auswertungsschritt 1:

Datengrundlage für die psychisch kranken Kinder sind Gesprächstherapien einer Art, wie sie von Anna Freud entwickelt und in der Freiburger ‚Kinder- und Jugendpsychiatrie' weiterentwickelt wurden. Dabei geht es genauer um eine Verhaltenstherapie im Medium der Sprache und des Gesprächs: Die Kinder sollen einen (maximal gewaltfreien) Freiraum eröffnet bekommen, in dem sie neue kommunikative Verhaltensweisen entwickeln und ausprobieren können, und in dem sie mit für sie neuartigen Verhaltensweisen von Kommunikationspartnern konfrontiert werden. - Ziel einer Gesprächstherapie mit Kindern ist es, pathologische 'Aktions-' und 'Reaktions-Routinen' bzw. 'Anpassungsleistungen' 'aufzubrechen' und die Kinder auf diese Weise in ihrer psychischen Entwicklung zu 'fördern'.

 Wir konzentrieren uns im folgenden auf den Anfang einer Gesprächstherapie; hier dürfte die Sprachverarbeitung und das Gesprächsverhalten der Kinder noch unbeeinflußt von therapeutischen Interventionen sein. Vergleicht man für die ersten drei Therapiesitzungen das kommunikative Verhalten der depressiven Kinder z.B. mit dem Kommunikationsverhalten hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder, dann ergibt sich (graphisch zusammengefaßt) das folgende Bild:

Der Unterschiede in der Reaktivität und auf dem abgeleiteten Parameter der Komplementarität sind statistisch hoch-signifikant. Hingegen lassen sich depressive Kinder hinsichtlich der Direktivität ihrer Initiativen (insgesamt) und auch hinsichtlich der Responsivität ihrer Reaktionen (ebenfalls insgesamt) nicht z.B. von hyperaktiven Kindern unterscheiden.

(3.3.) Auswertungsschritt 2:

Was die Direktivität von Initiativen und die Responsivität von Reaktionen angeht, so gestaltet sich das Bild ganz anders, wenn wir uns - wie oben ausgeführt - die Verteilung von Direktivitätsgrade und die Verteilung der Responsivitätsgrade anschauen; das soll zunächst am Beispiel der Direktivitätsgrade verdeutlicht werden:

Hier sind die Direktivitätsgrade derjenigen Initiativen, die sog. 'direkte Sprechhandlungen' darstellen und wörtlich verstanden werden können, zusammengefaßt worden und stehen denjenigen Initiativen gegenüber, die sog. 'indirekte Sprechhandlungen darstellen, - das sind Sprechhandlungen, die nur unter Einbezug des Kontextes verstanden werden können.

 Während bei hyperaktiven und auch bei aufmerksamkeitsgestörten Kindern hier ein eher ausgewogenes Verhältnis besteht, fallen depressive Kinder dadurch auf, daß sie sich extrem auf wörtlich verstehbare direkte Sprechhandlungen konzentrieren. Wir haben das in Verbindung gebracht mit dem größeren Verstehensaufwand, den indirekte Sprechakte erfordern (und das auch dann, wenn sie überlernt bzw. hoch automatisiert verstanden werden): Depressive Kinder vermeiden danach entsprechende kognitive Komplexitäten - weil sie in Ihrer Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit drastisch herabgesetzt sind?

 Und wie sieht die Verteilung der Responsivitätsgrade aus?

Auch für die Verteilung der Responsivitätsgrade ergibt sich ein differentialdiagnostisch eindeutiges Bild: Während hyperaktive Kinder auch hier eher zu einer Gleichverteilung neigen, vermeiden depressive Kinder hoch signifikant formale Reaktionen.

Wenn wir davon ausgehen, daß im Rahmen formaler Reaktionen mit der Gesprächsrolle des Antwortenden gewissermaßen gespielt wird, dann würde das für depressive Kinder bedeuten, daß sie diese 'spielerische Freiheit' im Umgang mit einer Gesprächsrolle nicht (mehr) besitzen, daß sie eine Gesprächsrolle statt dessen sehr rigide ausfüllen (ein Tatbestand, den bereits E. Goffman im Rahmen seiner interaktionistischen Überlegungen zur Entstehung von Depressionen angesprochen hat).

(3.4.) Ausblicke:

Der derzeitige Stand der Auswertungen legt nahe, daß es sorgfältige Auswertungen des Gesprächsverhaltens und der Sprachverarbeitung psychisch kranker Kinder erlauben, mit hoher Sicherheit eine jeweilige Psychopathologie zu diagnostizieren.

Bei den von uns untersuchten depressiven Kindern kommt hinzu, daß die Ergebnisse eine wichtige Bereicherung und Vervollständigung unserer Vorstellungen von kindlichen Depressionen ergeben:

Greift die Gesprächstherapie? Verändern sich Sprachverarbeitung und Gesprächsverarbeitung in der Therapie? Was die hohe Reaktivität und Komplementarität angeht, so gehen sie deutlich (statistisch signifikant) zurück. Hier also greift die Therapie, - das Kind 'klebt' zu Ende der Therapie deutlich weniger am Gesprächspartner und bewegt sich kommunikativ freier und eigenständiger.

 Und Direktivitäts- und Responsivitätsgrade?

Ganz ersichtlich nimmt die Tendenz, komplexere Verstehensleistungen zu vermeiden, zu (statistisch signifikant); und Gleiches gilt für die inhaltlichen Reaktionen. Ob insofern von einem Scheitern der Gesprächstherapie gesprochen werden muß, ist allerdings noch nicht ganz deutlich: Hier könnte sich im Rahmen der Therapie eine Art Langzeit-Rolle herausgebildet haben, die das Kind beibehält, obwohl es inzwischen sehr wohl in der Lage ist, Kontext mit einzubeziehen und eine jeweilige Gesprächsrolle mit spielerischer Distanz zu übernehmen; letztlich müssen wir hier also eine Reihe von Nachuntersuchungen abwarten.

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(Copyright "Neurolinguistisches Labor", Freiburg im Juli 1998)