Working Papers in Neurolinguistics and Neuroscience

Neuro 8:

Günter Kochendörfer: Was ist und wozu taugt Syntax? (1999)

Inhalt:

1 Gängige Auffassungen zum Gegenstand und zur Funktion der Syntax

2 Formulierung einer Gegenposition

3 Gedächtnisprobleme

4 Form und Funktion syntaktischer Repräsentationen

5 Abschließende Thesen

1 Gängige Auffassungen zum Gegenstand und zur Funktion der Syntax

Natürlich wissen wir alle ungefähr, was Syntax ist. Es gibt Bücher, die das Stichwort Syntax im Titel haben, z. B. solche, die Informationen über die Syntax des Deutschen versprechen. Man weiß, was man aufgrund dieses Titels zu erwarten hat. Syntax wird - z. B. für Unterrichtszwecke - beschrieben, und diese Beschreibungen sind auch durchaus brauchbar und erfüllen - etwa im Fremdsprachenunterricht - ihren Zweck. Für etliche linguistischen Schulen ist die Beschäftigung mit der Syntax Dreh- und Angelpunkt aller Aktivitäten. Auch wenn man sehr vorsichtig ist, wird man wahrscheinlich zugeben, daß an der "Existenz" der Sache wohl nicht zu zweifeln ist, obwohl man es bedauern mag, daß es in der Linguistik so verwirrend viele Arten und Weisen gibt, sich dieser so selbstverständlichen Sache zu nähern.

Wenn wir von der Syntax des Deutschen sprechen, betrachten wir Syntax z. B. als ein in der Masse existierendes Phänomen, das sich aus der Menge der beobachtbaren Äußerungen von Sprechern des Deutschen herausabstrahieren läßt; oder aber wir betrachten Syntax als Teil jener Informationsmenge, die ein Sprecher des Deutschen sich im Spracherwerb angeeignet hat und die ihn befähigt, sich seiner Muttersprache (in verschiedenen Varianten, versteht sich) in der Kommunikation zu bedienen. Wir sind es aber nicht nur gewöhnt, von der Syntax einer Sprache in diesem Sinne zu sprechen, sondern wir sprechen auch von der Syntax, oder hier vielleicht genauer: der syntaktischen Struktur, eines einzelnen Satzes. Auch darüber haben wir ziemlich feste Vorstellungen: Es gehört mit zum Schulstoff, daß man lernt, Sätze syntaktisch zu analysieren, d. h.: bestimmte sprachwissenschaftliche Kategorien auf sie anzuwenden. Ebenso wie die Existenz dieses globalen Phänomens der Syntax einer Muttersprache bzw. der syntaktischen Sprecherkompetenz im allgemeinen nicht bezweifelt wird, so wird im allgemeinen auch nicht bestritten, daß man berechtigt ist, einzelnen Sätzen syntaktische Strukturen zuzuweisen; man mag nur wieder bedauern, daß es so viele verschiedene Begrifflichkeiten und Schreibweisen gibt, solche Strukturen festzuhalten. 

Obwohl der Linguist also im allgemeinen mit großer Selbstverständlichkeit von der syntaktischen Kompetenz eines Sprechers oder der syntaktischen Struktur eines Satzes spricht, ist es doch nicht so einfach, diesen Konzepten Realitäten, Realitäten sozusagen in physikalischem Sinne, zuzuweisen. Im Falle der syntaktischen Struktur eines Satzes läßt sich diese Schwierigkeit ganz anschaulich demonstrieren. Wenn wir z. B. einen Konstituentenstrukturbaum, also die graphische Darstellung der syntaktischen Struktur eines konkreten Satzes hernehmen und ihn als Abbild von Eigenschaften dieses Satzes betrachten, Eigenschaften, denen irgendwelche physikalischen Realitäten entsprechen sollten, dann müssen wir zugeben, daß das, was dieser Strukturbaum allenfalls abbildet, dem Satz, als akustisches Phänomen betrachtet, jedenfalls nicht einfach physikalisch meßbar anhängt. Wenn man eine Äußerung als akustisches Phänomen betrachtet, dann ist es selbstverständlich nicht möglich, etwa eine Schicht oder einfach bestimmte Bestandteile dieses akustischen Phänomens abzuheben und zu sagen, daß das nun die Syntax sei. Wenn wir nach einer physikalischen Realität suchen, die in mehr oder weniger direkter Weise die Bezeichnung "syntaktische Struktur (eines Satzes)" verdient, müssen wir in die Prozesse des Sprachverstehens und der Sprachproduktion eindringen. Wenn es die syntaktische Struktur eines Satzes als physikalisches Gebilde überhaupt gibt, dann als Datenstruktur in den Gehirnen von Sprecher und Hörer und dort dem akustischen (oder optischen) Signal zugeordnet. Die syntaktische Struktur verläßt das Gehirn des Sprechers nicht, und der Hörer leitet sie neu aus dem akustischen Signal ab. Wohlgemerkt: Dies alles unter der Voraussetzung, daß die syntaktische Struktur eines Satzes überhaupt eine physikalische Realität hat. Wenn man also nach einer physikalischen Realität fragt, die hinter dem Abbild des Konstituentenstrukturbaums steht, fragt man genau genommen nach der Existenz einer mentalen Struktur.

Man muß den Strukturbaum des Linguisten natürlich nicht unbedingt als Abbild eines konkreten physikalischen Objekts verstehen. Man kann ihn auch so interpretieren, daß er einfach formale Ähnlichkeiten mit anderen Sätzen einer Sprache feststellt, daß er demzufolge nicht zu messen ist an einem Original, das er abbildet, sondern zu bewerten ist als Aussage über abstrakte "in der Masse existierende" Ähnlichkeitsbeziehungen, gewonnen aus der Beobachtung vieler Sätze, Abstraktion aus einem repräsentativen Korpus sprachlicher Daten.

Man muß, wie gesagt, die Frage nach einem konkreten Original, das z. B. der Konstituentenstrukturbaum oder allgemein die syntaktische Beschreibung eines Satzes abbildet, nicht stellen. Es ist aber verlockend, es zu tun. Genau so verlockend, wie der Versuch, Syntax einer Sprache zu konkretisieren als syntaktische Kompetenz eines Sprechers/Hörers dieser Sprache. Die syntaktische Kompetenz kann in dieser Interpretation aufgefaßt werden als konkrete mentale, grundsätzlich auch mit einer physikalischen Existenz versehene Informationsmenge. Es besteht bei dieser Art der Fragestellung aber auch die Gefahr, daß durchaus berechtigte abstrahierende Konstruktionen des Linguisten mit einer Realität versehen werden, die ihnen eigentlich nicht zukommt. Wenn es auch linguistisch sinnvoll und anwendungsrelevant ist, z. B. von syntaktischer Satzstruktur zu sprechen, so muß das noch nicht heißen, daß diesen Strukturen auch eine physikalische Existenz zugeschrieben werden kann, und entsprechendes gilt auch von der syntaktischen Kompetenz, d. h. dem postulierten syntaktischen Sprachbesitz eines Sprechers. Es besteht die Gefahr der Bevölkerung der "Realität" mit wissenschaftlichen Artefakten.

Wenn man Syntax in der beschriebenen Weise konkretisieren möchte, indem man die Frage stellt nach dem konkreten Original, das hinter den linguistischen Modellen steht, dann muß man sicherlich zunächst einmal klären, ob man Chancen hat, diese Originale überhaupt in der "Realität" anzutreffen. Ich will dieses Problem hier zunächst vom Standpunkt der Computerlinguistik aus beleuchten, und zwar beschränkt auf die Frage nach der Realität syntaktischer Strukturen von Sätzen, und will dann später allgemeine Thesen zu formulieren versuchen, die dem Begriff "Syntax" allgemein wenigstens in einigen Facetten eine etwas andere Qualität geben, als man sie gewohnt ist.

Im Rahmen der Computerlinguistik bedeutet "Realität syntaktischer Strukturen von Sätzen" die Behauptung, daß syntaktische Strukturen eine notwendige Position im Ablauf der Sprachverarbeitung auf Computern sind. Betrachtet man die Frage nach der Realität syntaktischer Strukturen vom Standpunkt der Computerlinguistik in dieser Form, kann man eine gewisse historische Differenzierung erkennen. In den 60er Jahren hätte wohl kein Computerlinguist daran gezweifelt, daß die zentrale Aufgabe bei der Verarbeitung natürlichsprachlicher Äußerungen mit Computern die syntaktische Analyse ist, d. h. die Zuweisung syntaktischer Strukturen zu den zu bearbeitenden Eingabesätzen. Demgegenüber galt die Semantik als undurchdringlich, und man hatte die Hoffnung, sie ausklammern bzw. mit ad-hoc-Konzepten ersetzen zu können. Das führt, um ein konkreteres Beispiel zu geben, bei dem klassischen Problem der maschinellen Übersetzung zu einem Vorgang, der aus drei Hauptabschnitten besteht:

1. Syntaktische Analyse des zu übersetzenden Satzes der Quellensprache, Ergebnis: syntaktische Struktur

2. Transformation dieser syntaktischen Struktur in die entsprechende syntaktische Struktur der Zielsprache durch kaum semantikgestützte Transformationsregeln (Transfer)

3. Synthese des Satzes der Zielsprache aus der transformierten syntaktischen Struktur.

Es konnte also vom Standpunkt der 60er Jahre aus gesehen kein Zweifel sein, daß die Ableitung einer syntaktischen Struktur, d. h. ihr Aufbau als (natürlich physikalisch reale) Datenstruktur in der Maschine ein ganz zentraler Vorgang innerhalb eines Modells der Sprachverarbeitung sein mußte.

In den 70er Jahren gerät die Computerlinguistik zunehmend unter den Einfluß KI-Forschung (künstliche Intelligenz - Forschung), die sich nicht nur mit Sprachverarbeitung, sondern mit Intelligenzleistungen allgemein zu beschäftigen hatte. Daraus ergibt sich schon rein umfangsmäßig eine abnehmende Relevanz der bis dahin dominierenden Syntaxproblematik. Die KI-Forschung kommt von der Erforschung außersprachlicher Intelligenzleistungen her und akzeptiert nur sozusagen widerwillig, daß für die Sprachverarbeitung eine besondere Instanz der syntaktischen Analyse erforderlich sein sollte. Wenn man es schlagwortartig ausdrücken möchte: In der von der KI-Forschung beeinflußten Computerlinguistik ist nicht der Aufbau syntaktischer Repräsentationen das zentrale Thema, sondern der Aufbau von Repräsentationen für die sprachlich vermittelten Inhalte.

Man kann vor diesem Hintergrund gut verstehen, daß sich schließlich die Frage ergeben mußte, ob eine syntaktische Analyse, die zur Entwicklung einer syntaktischen Repräsentation führt, überhaupt erforderlich ist oder ob nicht vielmehr alle aufzubauenden Informationsstrukturen, wenn man von der Phonologie einmal absieht, schon semantische Strukturen bzw. Wissensstrukturen sind, und die Annahme einer syntaktischen Struktur ein künstlicher Umweg. Diese Entwicklung in der Computerlinguistik hat gewisse Parallelen in der Entwicklung der Linguistik allgemein, in der es bekanntlich ja auch ein ungeheures Anwachsen semantischer Fragestellungen gegenüber der Syntax gegeben hat, so daß insgesamt die Ausgrenzung bestimmter Bereiche als ausdrücklich "syntaktisch" in Details schwierig sein mag. Die computerlinguistische Position erscheint aber, wegen des Zwangs zu kompromißloser Explizitheit, wie er von der Maschine ausgeht, als besonders radikal.

Es gibt in der KI-Forschung Stimmen, die die Berechtigung einer Syntax, die sich in der Bildung syntaktischer Strukturen von Sätzen z. B. im Verstehensprozeß niederschlägt, überhaupt in Frage stellen. Zu den entschiedensten Verfechtern und Verteidigern dieser Position gehören in den 80er Jahren der Amerikaner Schank und Mitarbeiter, die im Rahmen von Projekten zur Informationserschließung aus natürlichsprachlichen Texten im Kontext der sog. "Konzeptuellen Dependenztheorie" ausdrücklich die folgenden beiden Thesen vertreten:

1. Am Beispiel des maschinellen Sprachverstehens: Die Sprachverarbeitung wird durch einen integrierten Kontrollmechanismus bewirkt, der alle Arten von Wissen einbezieht, so daß keine separaten Ebenen der Analyse unterschieden werden können. Unter den verschiedenen Arten von Wissen kann auch syntaktisches Wissen in herkömmlichem Sinne sein (z. B. Wissen über die Reihenfolge von Satzbestandteilen).

2. Es wird im Lauf der Sprachverarbeitung keine eigenständige syntaktische Repräsentation gebildet. Auch die Auswertung "syntaktischen" Wissens führt unmittelbar zur Spezifikation semantischer Strukturen. Das ist eine natürliche Konsequenz aus These 1, der These von der Einheit des Mechanismus.

In der Tat wird man heute nicht mehr mit einer eindeutigen Separierbarkeit oder zeitlicher Abfolge syntaktischer und semantischer Schritte beim Verstehen von Sätzen rechnen, so daß es auch naheliegend ist, künstliche Modelle des Sprachverstehens entsprechend auszustatten. Zur Auflösung syntaktischer oder gar schon phonetisch-phonologischer Mehrdeutigkeiten werden sicherlich schon semantische oder gar noch jenseits der Semantik anzusiedelnde Informationsmengen herangezogen. Die Analyseebenen sind zeitlich ineinander verzahnt. Es gibt keine Autonomie der Syntax, wenn man an sprachverarbeitende Prozesse (die Performanz) denkt.

Die Vertreter der konzeptuellen Dependenztheorie gehen aber über diese Auffassung noch hinaus, indem sie die Notwendigkeit auch noch so rudimentärer und vorübergehender syntaktischer Repräsentation von Sätzen im Verstehensprozeß grundsätzlich bestreiten.

 

2 Formulierung einer Gegenposition

Thesen verleiten zur Aufstellung von Gegenthesen. Ich möchte gegen die Position der konzeptuellen Dependenztheorie zunächst zwei Behauptungen aufstellen:

1. Im Laufe des natürlichen Sprachverarbeitungsprozesses, also des natürlichen Sprachverstehens, werden notwendig Informationsstrukturen aufgebaut, denen man das Attribut "syntaktisch" tatsächlich zuschreiben muß. Kurz: Es gibt syntaktische Strukturen.

2. Diese syntaktischen Strukturen haben eine bestimmte, für den Sprachverarbeitungsprozeß wichtige Sonderfunktion, sie dienen nicht einfach der Übermittlung und Spezifikation semantischer Strukturen. Kurz: Es gibt syntaktische Kontrollmechanismen bzw. syntaktische Prozesse.

Es geht mir also nicht nur darum, die gegen eine eigenständige Syntax gerichtete Argumentation von Schank und Mitarbeitern zu entkräften. Das wäre, angesichts der Tatsache, daß die Berechtigung einer Syntax weithin akzeptiert wird, ein Unternehmen nur sehr geringer Relevanz. Vielmehr geht es mir darum, aus der von Schank aufgeworfenen Problematik weitergehende Schlußfolgerungen über die Natur der Syntax abzuleiten.

Zunächst also zur Frage - etwas provokativ formuliert - ob Sätze überhaupt eine syntaktische Struktur haben. Die Verzahnung der syntaktischen und semantischen Analyse macht die Argumentation hier außerordentlich schwierig. In der Literatur, die sich mit dieser Frage in Auseinandersetzung mit den beschriebenen Positionen der KI-Forschung beschäftigt, gibt es Argumente, die nur wenig zur Klärung beitragen. Ungeeignete Argumente sind solche, die zu zeigen versuchen, daß syntaktische Strukturen Wesentliches zur Bedeutung eines Satzes beitragen, denn das hindert nicht zu sagen, daß die entsprechenden Informationen, ganz im Sinne von Schank, direkt zum Aufbau von Bedeutungsrepräsentationen verwendet werden. Syntaktische Struktur mit Bedeutungsträgerfunktion ist nur schwer von semantischer Struktur zu unterscheiden.

Der Nachweis syntaktischer Strukturen, die Wesentliches zur Bedeutung beitragen, ist also kein sehr fruchtbares Argument. Ich will deshalb genau umgekehrt vorgehen und zeigen, daß es syntaktische Strukturen gibt, die nicht zur Bedeutung beitragen, also bedeutungsirrelevante syntaktische Phänomene.

Wenn es bedeutungsirrelevante Strukturen gibt, vorausgesetzt, daß sie nicht einfach funktionslos sind, muß es auch einen nicht-semantischen Mechanismus geben, der diese Strukturen auswertet, und es wird möglich, eine Eigenständigkeit der Syntax in diesem Sinne zu behaupten.

Es ist nicht ganz leicht, zu bestimmen, was bedeutungsirrelevante Strukturen eigentlich sein sollen. Selbstverständlich mündet das Verstehen eines Satzes letztlich in einer Repräsentation seiner Bedeutung oder - vorsichtiger - in einer Veränderung der Wissensstrukturen beim Hörer. Das sind Phänomene jenseits der Syntax. So gesehen sind alle mit einer Äußerung überhaupt verknüpften Phänomene bedeutungsrelevant. Bedeutungsirrelevanz in einem absoluten Sinne kann es nicht geben. Bedeutungsirrelevanz meint hier, daß ein Phänomen keine Bedeutungszuschreibung in direkter Weise erlaubt, obwohl dieses Phänomen, zusammen mit anderen und auf einer höheren Verarbeitungsebene, durchaus bedeutungsrelevante Strukturen bilden mag. 

Ein Beispiel erläutert besser als solche abstrakten Festsetzungen, was gemeint ist.

Im Deutschen steht der bestimmte oder unbestimmte Artikel immer vor dem zugehörigen Substantiv. Es heißt: der Tisch und nicht Tisch der. Diese Festlegung einer Konstituentenreihenfolge kann nicht direkt mit einer bedeutungstragenden Funktion versehen werden. Indirekt trägt diese Struktur allerdings zum Aufbau einer Nominalphrase bei, und Nominalphrasen sind bedeutungsrelevante syntaktische Kategorien. Natürlich sind nicht alle Reihenfolgephänomene im Deutschen bedeutungsirrelevant in diesem Sinne. Bekannte Beispiele für bedeutungsrelevante Reihenfolgephänomene sind Aussagesatzwortstellung vs. Fragesatzwortstellung, Stellung des Subjekts vor oder hinter dem finiten Verb usw. Es ist ein Unterschied, ob ich sage: 

Paul kommt.

oder

Kommt Paul.

Es ist nicht schwer, weitere bedeutungsirrelevante Reihenfolgephänomene im morphosyntaktischen Bereich auszumachen: Präpositionen stehen vor, nicht hinter der zugehörigen Nominalphrase, es heißt: auf dem Tisch, nicht: dem Tisch auf. Flexionsendungen sind positionsgebunden usw. usw.

Auch außerhalb der Reihenfolgephänomene gibt es viele Beispiele für bedeutungsirrelevante Korrektheitsbedingungen, vor allem wenn wir uns dem morphologischen Bereich noch weiter annähern: Es ist für die deutsche Gegenwartssprache z. B. nicht möglich, die Zugehörigkeit der Substantive zu bestimmten Flexionsklassen in plausibler Weise, und vor allem vollständig, semantisch zu motivieren. Die Flexionsklasse bestimmt aber, daß das betreffende Substantiv mit einem bestimmten Satz von Flexionsendungen zu verknüpfen ist (ein im weiteren Sinne syntaktischer Vorgang). Es heißt Tische und nicht Tischs oder Tischer.

Schon etwas schwieriger ist der Fall der Verbvalenz. Es ist nicht allein von der Verbbedeutung abhängig zu machen, mit welchen Ergänzungen ein Verb im Satz erscheint. Es heißt zwar:

Der Richter beschuldigt den Angeklagten des Diebstahls 

aber nicht

Der Richter verurteilt den Angeklagten des Diebstahls 

obwohl dafür kein einleuchtender semantischer Grund angebbar ist. Die Verbvalenz ist mindestens teilweise ein bedeutungsirrelevantes Phänomen.

Eine ähnliche Zwischenstellung wie die Verbvalenz haben Genuszuordnung und Genuskongruenz und die Kasusrektion der Präpositionen. Viele weitere solcher Phänomene können nachgewiesen werden, allerdings muß man sich dazu häufig auf den Boden einer bestimmten syntaktischen Theorie stellen, und eine solche Theorieabhängigkeit ist bei sehr allgemeinen Überlegungen natürlich eine Schwäche. Ich verzichte hier auf weitere Beispiele und nehme an, daß die beigebrachten Hinweise ausreichend demonstrieren, daß wir mit bedeutungsirrelevanten syntaktischen Phänomenen tatsächlich rechnen müssen.

 

3 Gedächtnisprobleme

Ehe ich meine Schlußfolgerungen aus diesen Beobachtungen ziehe, möchte ich einen Exkurs einschieben über ein sehr einfaches, aber in der Forschung chronisch vernachlässigtes Problem der Sprachverarbeitung, nämlich das Problem der Synchronisation von Eingabe (also z. B. dem Hörvorgang) und der Verarbeitung des (z. B. akustischen) Signals beim Sprachverstehen. Sprachverstehen ist mit allen beteiligten Komponenten ein in der Zeit ablaufendes Phänomen, d. h. nicht nur mit logischen, sondern auch mit bestimmten zeitlichen Abhängigkeiten belastet. Ein Synchronisationsproblem würde nur dann nicht entstehen, wenn Eingabegeschwindigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit von vornherein gleich wären, was eine von Sprecher zu Sprecher gleiche Sprechgeschwindigkeit voraussetzen würde. Das ist aber natürlich nicht der Fall. Die Eingabegeschwindigkeit kann größer oder geringer sein als die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Man kann vermuten, daß die Verarbeitung normalerweise der Eingabe potentiell vorauseilt, ich will das aber nicht weiter zu belegen versuchen. Für meine Argumentation reicht es aus, wem es wenigstens prinzipiell möglich ist, daß die Verarbeitung der Eingabe potentiell vorauseilt. Letzteres kann durch eine sehr einfache alltägliche Beobachtung belegt werden, die Beobachtung nämlich, daß man beim Sprechen auch mitten in einem Satz Pausen machen kann, ohne daß der Gesprächspartner notwendig "den Faden" verliert. In diesem Falle muß die Verarbeitung eine gewisse Zeit auf die Fortsetzung der Eingabe warten. Wenn die Gesprächspause zu lang wird, gibt es allerdings Probleme... Eine andere, ebenso banale Beobachtung ist die, daß auch das einzelne Wort tatsächlich sehr unterschiedlich schnell gesprochen werden kann. Hier entsteht das Synchronisationsproblem auf einer sehr niedrigen Verarbeitungsebene. 

Was heißt nun: Die Verarbeitung "wartet"?

Es handelt sich um ein Phänomen des Kurzzeitgedächtnisses. Die Synchronisation des Perzeptionsprozesses gegenüber zu langsamer Eingabe setzt die Speicherung von Zwischenergebnissen oder allgemeiner: von Zuständen des Verarbeitungsapparats voraus. Diese Zwischenergebnisse werden später wieder aufgegeben bzw. sind jedenfalls mit der Zeit nicht mehr zugänglich, man vgl. das Problem der zu langen Gesprächspausen. Die Zwischenergebnisse bilden eine Art zwischenzeitlicher Repräsentation des Eingabesatzes bzw. genauer: des schon bearbeiteten Teils des Eingabesatzes; sie können grundsätzlich phonologischer, syntaktischer oder semantischer Art oder noch jenseits der Semantik anzusiedeln sein.

Wenn man vor diesem Hintergrund die bedeutungsirrelevanten syntaktischen Phänomene betrachtet, wird deutlich, daß sie einen ganz entsprechenden (um nicht zu sagen: den gleichen) Kurzzeitgedächtnis-Mechanismus voraussetzen, d. h.: eine kurzzeitige Speicherung syntaktischer Informationen. Ein Beispiel:

Was geschieht bei der Analyse = dem Verstehen eines einfachen typischen "Grammatiksatzes" wie dem oben verwendeten Satz

Der Richter beschuldigte den Angeklagten des Diebstahls?

Die Analyse erfaßt zunächst den Artikel der. Das Ergebnis der Analyse besteht, neutral ausgedruckt, in einer gewissen Veränderung des Informationsrahmens, der das weitere Verhalten des Gesamtsystems bestimmt, d. h. auch die weitere Analyse des Satzes. Etwas genauer: Bestimmte Komponenten des Ergebnisses bringen eine "Weichenstellung" für die folgende Analyse mit sich. Es ist möglich, daß die in der Folge zu analysierenden Segmente mit dieser Weichenstellung vereinbar sind oder nicht. Nehmen wir einmal etwas vereinfachend an, die Weichenstellung bedeutet, es folgt ein Substantiv oder Adjektiv. Wenn diese "Vorhersage" nicht eintrifft, kann man sich besondere Maßnahmen als Reaktion vorstellen. Weichenstellung heißt hier also, daß eine nichtsemantische Information über einen bestimmten Zeitraum erhalten bleiben muß. Ich will die Betrachtung abkürzen und gleich auf das Verb springen: Wir haben denselben Vorgang: Die Wahrnehmung des Verbs schließt die Festlegung bestimmter syntaktischer Weichenstellungen mit ein. Es ist von der Bedeutung des Verbs her nicht zu entscheiden, daß es mit Genitivergänzung konstruiert werden muß. Es muß also eine syntaktische Information dieser Art über eine gewisse Zeitspanne hinweg verfügbar bleiben.

Die Schlußfolgerung aus diesen Überlegungen ist nun natürlich, daß es offenbar tatsächlich so etwas wie syntaktische Repräsentation eines Satzes im Prozeß des Sprachverstehens geben muß, da die interne Repräsentation bedeutungsirrelevanter syntaktischer Phänomene natürlich nicht als semantische Repräsentation verkauft werden kann.

 

4 Form und Funktion syntaktischer Repräsentationen

Ich will nun dieses Fazit noch in einigen wesentlichen Punkten ausbauen. Zunächst zur Frage: Wie sehen die syntaktischen Repräsentationen aus? Die einzelnen Bestandteile der Repräsentation haben von ihrer Funktion her gesehen die Aufgabe, bestimmte Erwartungen (syntaktischer Art) für den Rest des Eingabesatzes festzuhalten, sie müssen so kodiert sein, daß sie eine spätere "Weichenstellung" der Analyse eindeutig vorbereiten. Sie sind andererseits in dem Sinne flüchtig, daß sie nicht notwendig bis zum Erreichen des Satzendes verfügbar sein müssen. Man wird sich die syntaktische Repräsentation als eine im Verlaufe der Analyse sich dynamisch verändernde Datenstruktur oder wahrscheinlich besser: Aktivationsstruktur vorstellen müssen. Man kann sich das Ganze wie eine Art Lauflicht vorstellen, nur ein Teil der Lampenkette ist zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiviert. Es ist nicht erforderlich und auch nicht sinnvoll, die "syntaktischen Repräsentationen" räumlich von dem Apparat, der die syntaktische Analyse leistet und den darin verwendeten oder realisierten syntaktischen Regeln zu separieren. "Syntaktische Repräsentation" kann auch einfach als Zustand des syntaktischen Apparats verstanden werden. Ich kann auf die Details solcher Möglichkeiten hier nicht weiter eingehen.

Eine zweite, sehr wichtige Frage ist die nach dem Sinn und Zweck des Mechanismus der syntaktischen Repräsentation. Wenn man sich vergegenwärtigt, was die Linguistik auf die Frage nach dem Zweck der Syntax antworten würde, käme man wahrscheinlich auf die Formel: Die Syntax trägt wesentlich zur Bedeutung eines Satzes bei (ist Ausdruck für semantische Relationen). Man kam häufig lesen (sinngemäß), daß wir Syntax um der Semantik willen betreiben. Das kann aber nur die halbe Wahrheit sein, denn wie soll man unter diesen Prämissen die Existenz bedeutungsirrelevanter syntaktischer Phänomene erklären. Einige dieser Phänomene könnten sicherlich als Überbleibsel historisch älterer, ehemals bedeutungsrelevanter Ausdrucksmittel erklärt werden, sie werden aber so hartnäckig tradiert, daß man diese Erklärung allein nicht gelten lassen wird. Darum bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit der Erklärung übrig: Die bedeutungsirrelevanten Phänomene als eine besondere Form formaler Redundanz aufzufassen, mit der für Redundanzphänomene typischen Funktion der Kommunikationssicherung.

Syntax als formale Redundanz, wie kann man ihre Funktion verstehen?

Eine durch irgendwelche Umstände verstümmelte Nachricht kann als solche erkannt und bestimmten Reparaturmechanismen unterworfen werden, sobald die syntaktische Repräsentation unstimmig wird. Das kann zu einem Zeitpunkt geschehen, zu dem die semantische Interpretation sonst noch nicht zu einem Unverträglichkeitssignal führen würde und auch in solchen Fällen, in denen auch nach Störung des Signals eine stimmige semantische Interpretation möglich wäre.

Insgesamt wird man doch annehmen müssen, daß die semantische Interpretation flexibler ist als die syntaktische, und Anomalien eher "verkraften" kann. Die Verschleppung von Analyseproblemen ist sicherlich ungünstig. Auf die Frage nach dem Sinn der bedeutungsirrelevanten syntaktischen Phänomene kann also die Antwort gegeben werden: Sie sichern die Kommunikation, indem sie Störungen entdecken helfen, und sie vereinfachen den Prozeß des Verstehens, indem sie Reparaturmechanismen frühzeitig zu aktivieren erlauben.

Dies alles gilt zunächst für die bedeutungsirrelevanten syntaktischen Phänomene.

Die nächste hier zu stellende Frage ist die nach der Funktion der bedeutungsrelevanten syntaktischen Phänomene. Man könnte grundsätzlich die Vorstellung entwickeln, daß nur bedeutungsirrelevante Syntax in die syntaktische Repräsentation eingeht. Das schiene mir aber doch eine sehr künstliche Annahme zu sein. Denn auch die bedeutungsrelevanten Phänomene können Funktionen im Prozeß des Satzverstehens haben, die denen der bedeutungsirrelevanten Phänomene genau entsprechen. Nimmt man beide Kategorien zusammen, so sieht das Gesamtbild so aus, daß alle syntaktischen Phänomene (ihre Abgrenzbarkeit einmal vorausgesetzt) Steuerungs- und Kontrollfunktionen haben, und einige darüber hinaus noch bedeutungsrelevant sind. Ich möchte also behaupten, daß Steuerung und Kontrolle auf niedriger Verarbeitungsebene die primären Funktionen der Syntax sind, die bedeutungstragende Funktion, einmal provozierend formuliert, eher eine "Zugabe".

 

5 Abschließende Thesen

Ich glaube nicht, daß man durch einzelne Argumente etwas in irgendeinem Sinne "beweisen" oder "widerlegen" kann. Entscheidend ist, ob sich die Bestandteile einer Konzeption zu einem geschlossenen Gesamtbild zusammenfügen lassen, das eine einigermaßen interessante, zu Kontroversen führende Diskussionsbasis bietet. So will ich abschließend noch einmal zusammenfassend thesenartig ein solches Gesamtbild skizzieren. 

  1. Es gibt ein im physikalischen Sinne reales Urbild der vom Linguisten konstruierten syntaktischen Struktur eines Satzes, an dem das Produkt des Linguisten, wenn das gewünscht wird, wenigstens theoretisch gemessen werden kann. Die syntaktische Struktur ist kein in die Realität unberechtigterweise hineinprojiziertes wissenschaftliches Artefakt. 
  2. Die reale syntaktische Struktur eines Satzes ist ein Kurzzeitgedächtnis-Phänomen. Sie unterscheidet sich in diesem Punkt von der Repräsentation des Satzinhaltes, für die eine längerfristige Speicherung jedenfalls sozusagen prinzipiell vorgesehen ist. Die syntaktische Struktur eines Satzes ist im allgemeinen einer längerfristigen Speicherung nicht zugänglich. Das Auswendiglernen von Texten ist ein Sonderfall und braucht andere Mechanismen als sie bei der normalen Sprachverarbeitung eingesetzt werden.
  3. Die syntaktischen Eigenschaften von Sätzen stellen eine Art formaler Redundanz dar, die der Sicherung der Kommunikation durch Kontro1möglichkeiten auf niedriger Verarbeitungsstufe dienen. D. h. die Syntax ermöglicht die frühzeitige Aktivierung von Reparaturmechanismen bei gestörter Kommunikation.
  4. Die syntaktischen Repräsentationen ermöglichen eine effektive Steuerung des Verstehensprozesses. Es ergibt sich bezüglich der Rolle der Syntax eine gewisse Asymmetrie zwischen Produktionsprozeß und Verstehensprozeß. Steuerungs- und Kontrollfunktionen ergebensich für die syntaktischen Strukturen in erster Linie für den Verstehensprozeß.
  5. Die bedeutungstragende Funktion der syntaktischen Struktur einer Äußerung ist gegenüber der "bedeutungssichernden" sekundär. Wie der Klassiker Schank gezeigt hat, können in vielen Fällen inhaltliche Rahmenstrukturen Funktionen erfüllen, die man üblicherweise der Syntax zuschreibt.
  6. Wenn wir über die syntaktischen Strukturen einzelner Äußerungen hinweg auf die Gesamtheit der syntaktischen Kompetenz eines Sprechers / Hörers blicken, so eröffnet die Zuweisung einer primär analysesteuernden Funktion mehr als die herkömmliche Vorstellung von der Syntax als Bedeutungsträger die Möglichkeit, die syntaktische Kompetenz mit einem Analyseapparat, nicht so sehr mit einer statischen Regelmenge (fast Zeichenmenge) zu identifizieren. Es ist leichter, eine solche Syntax mit modernen Sprachmodellen in Einklang zu bringen, wie sie in Versuchen neuronaler Modellbildung vorgeschlagen worden sind. Hier ergibt sich die Möglichkeit einer Einbettung in einen größeren, über die Linguistik hinausreichenden theoretischen Zusammenhang.

 

Ich bin mir im Klaren darüber, daß die zuletzt genannte These, die der Syntax nur sekundär eine bedeutungstragende Funktion zugesteht, die brisanteste ist. Von hier ausgehend wird es möglich, den Verstehensprozeß unabhängiger von der syntaktischen Analyse zu modellieren. Man kann sich überlegen, ob man für den Verstehensprozeß immer eine vollständige und korrekte syntaktische Analyse voraussetzen darf. Die Alternative wäre eine syntaktische Analyse-so-weit-als-den-Umständen-entprechend-erforderlich-und-möglich. Das könnte erklären, warum selbst bei fragmentarischer Syntax das Verständnis, obwohl es mit einigen Mühen verbunden ist, doch nur unmerklich oder gar nicht leidet. Und es ist schließlich daraus natürlich auch erklärbar und verständlich, warum KI-Forschern die Syntax als eher vernachlässigbare Größe erschienen ist.

Günter Kochendörfer